Projektleiter Andreas, 36, plante mit seiner kleinen Familie einen längeren Segeltörn von der Ostsee bis ins Mittelmeer. Vor Corona.
Mit 3m5. stimmte er ein Sabbatical-ähnliches Arbeitsmodell ab, das es ihm ermöglicht, Büro und Boot zu vereinen. Als im Frühjahr der Lockdown auch in Deutschland näher rückte, entschied Andreas: Im Zweifelsfall ist das Meer die angenehmere Isolation – Anker lichten!
Acht Meter lang ist "Marie", Andreas' rund 40 Jahre altes, restauriertes Segelboot. "Da läuft eigentlich alles Wesentliche analog, der Yanmar-Motor hat nur zwei elektronische Bauteile: den elektrischen Anlasser und die Lichtmaschine. Das ist mein Ausgleich zur ansonsten rundum digitalen Welt. Natürlich haben wir aber auch digitale Helfer an Bord: Windgenerator und Solarpaneel werden über eine Bluetooth-App ausgelesen und konfiguriert. Das Tablet dient als digitaler Kartenplotter." Für die Navigation gibt es die klassischen analogen Seekarten. So ausgerüstet, planen er und seine Frau 2019 einen längeren Segeltörn: Sie wollen die "Marie" aus ihrem Heimathafen Lubmin an der Ostsee ins warme Mittelmeer bringen.
Sie nimmt für die Reise, die rund ein halbes Jahr dauern soll, Elternzeit. Er entscheidet sich für das Experiment "Boat-Office". Und erzählt: "Ich habe das mit den Chefs besprochen und allen war klar, dass ich auf dem Meer keine 40-Stunden-Woche schaukeln will. Wie viel genau ich arbeiten kann, war vorher nicht genau abzusehen. Aber mit einem flexiblen Arbeitszeitkonto und einer dynamischen Lohnregelung lassen sich segeln und arbeiten vereinen." Geschäftsführer Michael Eckstein ergänzt: "Wir sind offen für individuelle Arbeitsmodelle. Wichtig ist dabei, im Gespräch zu bleiben und gemeinsam zu schauen, wie das Modell funktioniert. Wenn Leute solche Pläne umsetzen können, steigert es definitiv ihr Glückslevel, und glückliche Mitarbeiter sind motivierte Mitarbeiter."
Im Mai 2020 sollte es losgehen, doch zwei Monate zuvor, legte die sich immer schneller ausbreitende Pandemie Deutschland lahm. Ab März arbeitete auch bei 3m5. nahezu das gesamte Team im Homeoffice. "Ich habe versucht, den Lockdown positiv zu sehen: als eine Art Kaltstart. Die Kunden, deren Projekte ich betreue, waren bereits darauf vorbereitet, dass der Kontakt in diesem Jahr rein über digitale Kanäle laufen würde. Generell fanden die meisten Meetings auch vorher per Video- oder Telefonkonferenz statt, weil unsere Kunden ja aus dem gesamten Bundesgebiet kommen", erzählt Andreas. Oft wurde er gefragt, ob er die Reise verschieben wolle. Doch wer sollte abschätzen, wie die Welt die Corona-Krise 2021 verkraftet haben würde – und ob überhaupt? Die Entwicklung eines Impfstoffes würde ohnehin mindestens ein Jahr dauern. "Bis dahin müssen wir alle lernen, mit der Situation umzugehen. Ob wir Corona auf dem Meer miterleben oder zu Hause, macht keinen Unterschied."
Ein weiterer Grund für Andreas, an dem Segeltörn festzuhalten, war die gute Lage bei 3m5.: Die Projekte liefen weiter, es kamen sogar neue hinzu, die Kommunikation mit den Kunden klappte digital gut. Also entschied die Familie, die Segel zu setzen: "Das letzte 'freie' Jahr unseres Sohnes, bevor er schulpflichtig wird, werden wir nicht in häuslicher Quarantäne verbringen. Auf See sind wir auch isoliert, denn mehr Quarantäne als zu dritt auf einem Segelboot geht kaum. Natürlich brauchen wir unterwegs Lebensmittel und wollen ab und zu die Gegend erkunden, aber das wäre zu Hause auch so", erklärt Andreas. Seitens der Behörden sprach nichts gegen die Reise, und so begann sie im Juni 2020, etwas später als ursprünglich geplant.
Inzwischen ist das Trio mehr als fünf Monate unterwegs, hat 2.500 Meilen zurückgelegt, heute hier, morgen dort, und genießt Freiheit, Wind und Wasser. Und die Arbeit? Dank Roaming läuft das dafür nötige Internet über den heimischen Mobilfunkvertrag, und das erstaunlich gut, denn im Gegensatz zu Deutschland ist das Breitband-Internet entlang Andreas Route durch Europa sehr gut ausgebaut: "Auf einer unbewohnten Atlantik-Insel, zehn Meilen vor der spanischen Küste, habe ich drei Balken LTE, zwischen Greifswald und Rügen nicht einmal Edge..."
Die Nutzungsgewohnheiten der Einheimischen in Frankreich, Belgien und Co erlebt Andreas als erstaunlich digital: "Neulich waren wir auf einem kleinen, spanischen Fischmarkt. Hinter uns in der Schlange wartete eine Dame, geschätzte 70 Jahre oder älter. Nach ausdauerndem Schnack mit der Verkäuferin zog sie ein iPhone aus der Schürze, hielt es kurz an ein kleines Lesegerät und – beep – waren die zwei Kilo Kalamari per Apple Pay bezahlt. Sie verabschiedete sich laut lachend und zog mit ihrer Gehhilfe und dem Einkauf von dannen. Das ist hier der Stand der Digitalisierung. Ich denke, das zeigt deutlich, dass wir in Deutschland Digitalisierungs-Skeptiker, die argumentieren, die ältere Bevölkerung werde abgehängt, leicht eines Besseren belehren könnten."
Andreas und seine Familie sind aktuell in der Vorbereitung für das Winterlager. Sie verlassen das Boot bald für einen langen Zeitraum und kehren nach Deutschland zurück: „Das fällt uns ehrlich gesagt recht schwer. So vieles hat sich verändert, unsere Verbundenheit zur Natur ist immens gewachsen, genauso wie die Demut vor den Naturgewalten und das Wissen um die eigene Unbeholfenheit, wenn es mal richtig zur Sache geht ‚da draußen‘. Ein Sturm ist wunderbar von einem hohen Kap aus anzusehen – wie die Wellen meterhoch über die Felsen schießen, einem die Gischt auch noch 200 Meter weiter ins Gesicht fliegt … in der gleichen Situation auf dem Wasser zu sein, kann zum Überlebenskampf werden.“
„So viele Dinge, die mich früher aufregen konnten, bewegen mich jetzt nicht mehr. Wir haben gelernt, die Dinge so zu nehmen, wie sie gerade sind, auch und vor allem die Menschen." Ein Plan B liegt stets in der Schublade, um auf alle möglichen Lebenssituationen vorbereitet zu sein. Für die innige Familienzeit sind alle drei sehr dankbar: „Um über Monate hinweg mit der Familie auf engstem Raum zu leben und sich 24 Stunden am Tag zu sehen, muss man sich schon sehr mögen. Es schweißt eng zusammen, die Beziehung zu unserem Sohn ist inniger denn je, und wenn wir uns unterhalten, erschrecke ich manchmal fast darüber, wie erwachsen und weitsichtig er manche Dinge mit seinen sechs Jahren bewertet. Es war eine unglaubliche Zeit, die uns für immer in Erinnerung bleiben wird.“
Das Thema Corona war stets dabei, hat die Familie aber selten direkt beeinflusst. Einzige Hürde war die ständige Kontaktaufnahme zu den jeweiligen Behörden und das Recherchieren der aktuellen Umstände zu einer eventuellen Einreise. Die betrachteten Andreas und seine Frau nach einiger Zeit ganz Segler-typisch wie einen großen Sturm: „Take it easy – sunshine after rain.“
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